Das Buch vermittelt ein tiefes Verständnis für psychische Erkrankungen und zeigt konkrete Wege für eine hilfreiche Begleitung im Alltag auf.
Wissen & Gesundheit

Irre verständlich

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IRRE VERSTÄNDLICH von Matthias Hammer und Irmgard Plößl* richtet sich an alle Fachkräfte, die psychische Erkrankungen besser verstehen und Betroffene im Alltag begleiten möchten. Das Buch liefert fundiertes Hintergrundwissen, praxisnahes Handwerkszeug und konkrete Handlungsempfehlungen für die psychosoziale Arbeit. Die Autoren verfolgen das Ziel, komplexe Störungsbilder nachvollziehbar zu machen und Unterstützung im beruflichen Alltag zu erleichtern. / Anzeige

Inhaltlich gliedert sich das Buch in zwei Hauptteile. Teil eins vermittelt übergreifendes Wissen für psychische Erkrankungen und beschreibt Modelle, Strategien und Haltungen für den professionellen Umgang. Teil zwei bietet störungsspezifisches Wissen zu verschiedenen Krankheitsbildern. Die Kapitel sind systematisch aufgebaut und orientieren sich an den realen Fragestellungen aus der Berufspraxis.

Teil 1: Grundlagenwissen, Modelle und alltagsbezogene Handlungsstrategien

Der erste Teil beginnt mit der aus meiner Sicht besonders spannenden Frage: Warum werden Menschen eigentlich psychisch krank? Die Autoren führen dabei in das Vulnerabilitäts-Stress-Modell ein. Dieses Modell veranschaulicht die Wechselwirkungen biologischer, psychischer und sozialer Faktoren. Frühwarnzeichen, Schutzfaktoren und Bewältigungsstrategien werden sukzessive anschaulich erklärt.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt dann aber auch auf der Selbsthilfe und Gesundung. Konzepte wie Empowerment und Recovery werden dabei nicht nur theoretisch erläutert, sondern auch anhand konkreter Situationen aus dem Alltag eingeordnet. Die Leser von Matthias Hammer und Irmgard Plößl erhalten praxisnahe Beispiele, wie professionelle Zurückhaltung, Wahlmöglichkeiten und Ressourcenorientierung im Alltag gelebt werden können.

Das „Klärungskarussell“ bietet eine strukturierte Vorgehensweise für komplexe berufliche Situationen. Die vier Klärungsschritte – Selbstklärung, Rollenklärung, Auftragsklärung und Kontextklärung – ermöglichen reflektiertes und wirkungsbewusstes Handeln.

Teil 2: Störungsspezifisches Wissen mit Bezug zur Alltagspraxis

Der zweite Teil widmet sich ausführlich einzelnen Krankheitsbildern. Jedes Kapitel beginnt mit Fallbeispielen aus der Perspektive der Betroffenen. Daran schließt sich eine Reflexion eigener Alltagserfahrungen an, gefolgt von Fachinformationen und alltagstauglichen Empfehlungen.

Behandelt werden unter anderem Psychosen, Depressionen, bipolare Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Angst- und Zwangserkrankungen sowie traumaassoziierte Störungen. Auch der Umgang mit suizidalen Krisen wird differenziert dargestellt.

Im Kapitel über Psychosen steht beispielhaft das Erleben der Betroffenen im Mittelpunkt. Die Leser erhalten Einblicke in subjektive Wahrnehmungswelten, die das Verständnis für das Verhalten der Betroffenen vertiefen können. Für mich wirklich beeindruckend und beängstigend zugleich.

Auch das Kapitel zu Depressionen beleuchtet den allmählichen Übergang von normaler Niedergeschlagenheit hin zur psychischen Erkrankung.

Dabei wird die Dynamik zwischen Fühlen, Denken und Handeln verständlich beschrieben.

„Unser Ziel ist es, psychologisches Wissen über die Entstehung von Störungen für den Umgang mit Betroffenen im Alltag nutzbar zu machen. […] Es geht nicht darum, alle Menschen mit einer bestimmten Diagnose in der immer gleichen Weise zu behandeln, sondern im Gegenteil jeden Einzelfall aufmerksam, achtsam und um Verständnis bemüht zu betrachten. […] Viele Symptome psychischer Erkrankungen sind nur extreme Ausprägungen von Erlebens- und Verhaltensweisen, die jeder Mensch aus seinem Leben kennt.“
Matthias Hammer & Irmgard Plößl

An dieser Stelle ein paar Worte zu den Autoren:

Dr. Matthias Hammer ist Psychologischer Psychotherapeut mit eigener Praxis in Stuttgart. Er verfügt über langjährige Berufserfahrung in der Psychiatrie, der Rehabilitation psychisch erkrankter Menschen sowie der ambulanten Psychotherapie. Neben seiner praktischen Tätigkeit leitet er Seminare und Fortbildungen zur psychosozialen Arbeit. Ich durfte bereits mehrere seiner Bücher rezensieren. Hier kommst du zu diesen Rezensionen.

Dr. Irmgard Plößl ist Psychologische Psychotherapeutin und leitet die Abteilung für Berufliche Teilhabe und Rehabilitation am Rudolf-Sophien-Stift in Stuttgart. Sie ist seit vielen Jahren in der beruflichen Weiterbildung tätig und entwickelt praxisorientierte Konzepte für Fachkräfte. Gemeinsam mit Dr. Matthias Hammer bietet sie Schulungen und Fortbildungsreihen an.

Beide Autoren verbinden wissenschaftlich fundiertes Fachwissen mit langjähriger Praxiserfahrung. Ihr gemeinsames Anliegen ist es, psychisches Wissen für den Berufsalltag verständlich und anwendbar aufzubereiten. Ihre Veröffentlichungen richten sich an Fachkräfte aus Sozialarbeit, Pflege, Ergotherapie und Rehabilitation.

„Menschen in einer akuten Psychose leben in ihrer eigenen Welt, einer Welt, die sich mit der Welt, wie sie die meisten anderen Menschen wahrnehmen, nur teilweise überschneidet. […] Sie gehen durch dieselben Straßen, sehen dieselben Autos vorbeifahren und kaufen ähnliche Dinge ein. Aber was sie wahrnehmen, ist etwas völlig anderes: Gefahr, Bedrohung, geheime Bedeutung, Botschaften und Befehle hinter Dingen, die anderen vollständig harmlos erscheinen.“
Matthias Hammer & Irmgard Plößl

Hier findest du Bücher und Fortbildungen für Menschen in psychosozialen Berufen.

Materialien und Unterstützungsangebote zur direkten Anwendung

Das Buch enthält zusätzliches Downloadmaterial, das den Transfer in die Praxis erleichtern soll. Dazu gehören unter anderem eine Liste von Frühwarnzeichen, Vorlagen für Fallbesprechungen, ein persönlicher Krisenplan sowie Arbeitsmaterialien zur Förderung von Selbsthilfe.

Darüber hinaus verweisen die Autoren auf ergänzende Fortbildungsangebote und ein zweites Methodenbuch. Diese strukturieren das Wissen weiter und bieten Fachkräften Gelegenheit zur Vertiefung.

Zielgruppenorientierung und Einsatzmöglichkeiten

Irre verständlich eignet sich vor allem für Fachkräfte aus der Sozialen Arbeit, Pflege, Heilerziehungspflege, Ergotherapie und für Genesungsbegleitende. Aber auch als sehr interessierter Laie wie ich, kommt man hier auf seine Kosten. Es berücksichtigt stationäre, ambulante und rehabilitative Kontexte. Die Inhalte sind sowohl für Einsteiger als auch für erfahrene Fachkräfte relevant.

Viele Kapitel enthalten konkrete Beispiele aus Werkstätten, Wohngruppen oder Beratungssituationen. Die Inhalte lassen sich flexibel auf unterschiedliche Berufsrollen übertragen und unterstützen eine reflektierte Beziehungsgestaltung.

„Empowerment bedeutet Stärkung der Eigenmacht, Selbstbefähigung oder Selbstermächtigung. Recovery bedeutet Gesundung, Genesung oder Wiedererlangung von Gesundheit. […] Empowerment und Recovery sind nicht in erster Linie ein anzustrebendes Ziel, sondern sie sind immer ein Prozess, der in jedem individuellen Einzelfall anders verläuft. […] Der Grundsatz, dass Klientinnen und Klienten letztlich selbst am besten wissen, was gut für sie ist, fördert unseren professionellen Respekt vor ihren Entscheidungen.“
Matthias Hammer & Irmgard Plößl

Fachbuch statt Unterhaltungsliteratur – und genau das ist seine Stärke

Schon beim ersten Durchblättern wird klar: Dieses Buch ist kein populärwissenschaftliches Sachbuch, sondern ein fundiertes Fachbuch. Es erscheint im Fachverlag – daher sollte man optisch keine Maßstäbe an gängige Sachbücher anlegen. Viele Bücher, die ich sonst rezensiere, sind anders gestaltet – ansprechender, zugänglicher, teils verspielter.

Dieses Buch hingegen ist sachlich, klar strukturiert und wissenschaftlich sauber – das wiegt den nüchternen Stil auf. Optisch sicher keine Wucht – aber es erfüllt seinen Zweck mit Präzision und Systematik.

Preisfrage: Berechtigt oder überzogen?

35 Euro für rund 250 Seiten im Hardcover wirken auf den ersten Blick etwas hochpreisig. Aber: Fachverlage arbeiten meist mit kleineren Auflagen – das beeinflusst den Preis deutlich. Vergleichbare Titel kosten oft mehr – auch wenn das Buch sicher kein Schnäppchen ist.

Interessierte sollten wissen, was sie für ihr Geld erhalten: Substanz, Struktur und Fachlichkeit.

Sprache, Stil und Anspruch – für Fachpublikum gemacht

Die Sprache bewegt sich auf hohem wissenschaftlichem Niveau – sachlich, präzise und klar. Wer den erzählenden Stil anderer Werke von Matthias Hammer erwartet, könnte überrascht sein. Das Buch will nicht unterhalten – es will aufklären, differenzieren und reflektieren. Für mich ist das ein Pluspunkt – gerade bei solch komplexen Inhalten.

Trotz des fachlichen Niveaus konnte ich dem Inhalt durchgehend gut folgen. Auch als interessierter Laie fühlte ich mich nicht überfordert, sondern strukturiert durch das Thema geführt. Ich konnte viele neue, differenzierende Perspektiven mitnehmen – trotz Vorwissen aus ähnlicher Literatur.

Ein Beispiel, das besonders hängen bleibt

Immer wieder begegnet mir der Begriff „Depression“ im Alltag – oft voreilig gebraucht. Das Buch zeigt: Viele emotionale Tiefs sind normale Lebensphasen, keine klinischen Erkrankungen. Diese Einordnung hat mir besonders geholfen – sachlich, unaufgeregt, aber äußerst differenziert.

Das Buch richtet sich klar an Fachleute – bleibt aber auch für interessierte Laien verständlich. Es ersetzt keine Therapie, bietet aber wertvolle Orientierung für Alltag, Beruf und Begegnung.

Psychische Erkrankungen zu unterschätzen – oder Menschen vorschnell zu etikettieren – wäre fatal. Genau dabei hilft dieses Buch: mit Kontext, Wissen und Haltung.

Fazit: Verständnisschaffung als zentrale Kompetenz in der psychosozialen Arbeit

Matthias Hammer und Irmgard Plößl gelingt es, wissenschaftlich fundiertes Wissen verständlich und praxisorientiert aufzubereiten – selbst für interessierte Laien. Das Buch vermittelt ein tiefes Verständnis für psychische Erkrankungen und zeigt konkrete Wege für eine hilfreiche Begleitung im Alltag auf. Dennoch ersetzt es natürlich für Betroffene keinesfalls eine professionelle Unterstützung. Für Angehörige von Betroffenen kann es aber als Recherche und Orientierungshilfe dienen.

Die Leser erhalten ein vielseitiges Arbeitsbuch, das nicht nur informiert, sondern auch zur Reflexion und Weiterentwicklung der eigenen Haltung einlädt. Die strukturierte Aufbereitung und das umfangreiche Materialangebot machen Irre verständlich* sicherlich zu einem wertvollen Begleiter im Berufsalltag.

Fünf zentralen Learnings aus Irre verständlich von Matthias Hammer und Irmgard Plößl:

1. Psychische Erkrankungen sind das Ergebnis komplexer Wechselwirkungen

Psychische Störungen entstehen meist durch das Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell hilft dabei, diese Dynamik zu verstehen – und zeigt, dass Prävention und Stabilisierung möglich sind.

2. Verstehen statt etikettieren

Viele Verhaltensweisen erscheinen im Alltag irritierend, sind aber Ausdruck innerer Not oder psychischer Belastung. Wer Hintergründe kennt, reagiert empathischer – und vermeidet vorschnelle Zuschreibungen wie „krank“, „unmotiviert“ oder „nicht belastbar“.

3. Empowerment und Recovery beginnen mit Haltung

Hilfe bedeutet nicht Kontrolle, sondern Selbstermächtigung. Menschen mit psychischer Erkrankung brauchen Raum für eigene Entscheidungen, auch wenn diese nicht unseren Erwartungen entsprechen.

4. Beziehung ist der Schlüssel zur wirksamen Unterstützung

Langfristige Begleitung im Alltag wirkt oft nachhaltiger als punktuelle Therapie. Wirkliche Hilfe entsteht dort, wo Menschen Vertrauen entwickeln dürfen – durch klare Rollen, offene Kommunikation und echtes Interesse.

5. Struktur hilft in komplexen Alltagssituationen

Das Klärungskarussell bietet eine praxistaugliche Orientierung: Selbstklärung, Rollenklärung, Auftragsklärung und Kontextklärung fördern reflektiertes Handeln – statt vorschneller Reaktionen oder Überforderung.

Wenn du auf der Suche nach weiteren spannenden Büchern bist, dann findest du unter Buchtipps eine interessante Auswahl aus über 500 ausführlichen Rezensionen. Diese kannst du individuell nach Preis, Seitenanzahl, Themenbereich, Bewertung und Zielgruppe filtern. Solltest du eine vergleichbare Buchempfehlung für mich haben, dann schreib mir doch gerne über meine Social-Media-Kanäle.

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