DIE INFANTILE GESELLSCHAFT von Alexander Kissler* ist ein fulminanter Aufruf zu mehr Mündigkeit, Eigenverantwortung und weniger Gefühligkeit. In diesem Buch nimmt der Autor die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaft aufs Korn. Er beschreibt, wie Erwachsene sich ungeniert wie Kinder verhalten, während Politiker ihre Wähler behandeln, als wären sie kleine Kinder. Dabei analysiert er die mal albernen, mal tragikomischen Verrenkungen unreifer Erwachsener. Und er zeigt die Folgen einer infantilen Gesellschaft, in der Vernunft kaum zählt und Unvernunft regiert. / Anzeige
Die zentrale These des Buches lautet: Infantilität ist keine neue Erscheinung.
Sondern sie manifestierte sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Form eines morbiden Kults des Infantilen. Alexander Kissler verfolgt die Spuren dieses Phänomens bis zu Schriftstellern wie Wordsworth und Dickens. Und er warnt, dass der Kult des Kindischen die Menschen daran hindere, sinnvoll zu leben.
Weiter geht er auf die Philosophie von Jean-Jacques Rousseau ein, der die Kindheit als eine Quelle für ein echtes, unverbogenes Dasein betrachtete. Dabei hebt der Autor hervor, dass die heutigen Vertreter des Kindischen Rousseau falsch interpretierten. So förderten sie eine gefährliche Entwicklung hin zur Infantilität. Er kritisiert die flächendeckende Bereitschaft, dem Kindermund höchste Weisheit zuzusprechen. Entsprechend warnt er vor den Folgen der Infantilisierung in Politik, Wirtschaft und Kultur.
„Jean-Jacques Rousseau erfindet die Kindheit, wird aber von denen missverstanden, die sich am lautesten auf ihn berufen, und Peter Pan ist leider ein Vampir.“
Alexander Kissler
Besonders brisant ist die Analyse der Tendenzen der Infantilisierung in der Politik.
Denn dort ersetze der direkte Gefühlsappell zunehmend das Argumentieren, so Alexander Kissler. Er sieht die Gefahr, dass die Republik ihren republikanischen Geist verliert, wenn die Infantilität in der Politik weiter triumphiere. Als Gegenmittel plädiert er für den Mut zur Erwachsenheit. Nur so könnten wir die Lage verbessern und der Verschleuderung der Gaben der Gesellschaft entkommen.
„Das Bild vom kindlichen Orakel lässt sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Es ist keine spätmoderne Spezialität. Neu allerdings ist die flächendeckende Bereitschaft, dem Kindermund allgemein höchste Weisheitsgrade zuzusprechen. Von den Kindern solle man lernen, tönt es aus Politikermund. Auf die Kinder möge man hören, fordern Künstler und Wissenschaftler. Das eben ist dann doch eine kindische Zumutung zu strategischen Zwecken. Nicht Kindern ist vorzuwerfen, dass sie wie Kinder reden. Aber Erwachsenen ist vorzuwerfen, wenn sie Aussagen von Kindern nutzen, um ihre eigene erwachsene Agenda gegen Kritik zu immunisieren.“
Alexander Kissler
An dieser Stelle ein paar Worte zum Autor:
Alexander Kissler ist ein renommierter Kulturjournalist, politischer Publizist und erfolgreicher Sachbuchautor. Mit seinen Werken hat er sich als scharfsinniger Denker und kritischer Geist etabliert. Darunter sind Titel wie Dummgeglotzt*, Keine Toleranz den Intoleranten* und Widerworte: Warum mit Phrasen Schluss sein muss*.
Kissler hat sein journalistisches Können unter anderem bei namhaften Medien wie der FAZ, der Süddeutschen Zeitung und dem Focus gezeigt. Von 2013 bis Sommer 2020 leitete er das Kulturressort beim Monatsmagazin Cicero. Dort vertiefte er seine Fähigkeiten im Bereich der kulturellen Berichterstattung. Seit August 2020 ist er politischer Redakteur im Berliner Büro der Neuen Zürcher Zeitung. Damit baut er seine Expertise in politischen Themen weiter aus.
Alexander Kissler lebt in Berlin und bringt eine umfassende Perspektive auf Kultur, Politik und Gesellschaft in seine Arbeiten ein. Seine Werke zeichnen sich durch eine klare Sprache, tiefgehende Analysen und kritische Reflexionen aus. Das macht ihn zu einem bedeutenden Akteur in der deutschen Medienlandschaft.
„Dagegen hilft nur der Mut zur Erwachsenheit. So stehen wir staunend, irritiert und erheitert vor einer Gesellschaft, in der nicht Kinder vorzeitig hinaufgehoben werden ins Erwachsenenalter, was ihnen einst gewiss nicht gut bekam.“
Alexander Kissler
Für mich begann das Buch bereits mit einem gelungenen ersten Eindruck.
Das Cover gefällt mir sehr gut, ebenso auch der Einband und das geschmackvolle Backcover. Die Farben sind voll und ganz meins und auch die Schriftarten und der Blick für die Details sagen mir zu. Ich beginne Harper Collins als Verlag immer mehr zu schätzen.
Auch das Inhaltsverzeichnis ist ganz eigen und sehr geschmackvoll gestaltet. Ich hätte allerdings den Platz drumherum etwas mehr ausgenutzt.
„Aus Sicht des Kindes, scheint es, kann man sich ein Aufwachsen nach der Methode Rousseaus nur wünschen. Der ‚Émile‘ ist die Lizenz zum Schreien, Toben, Spielen. Lesen soll das Kind wenig und spät, ‚Robinson Crusoe‘ reicht erst einmal. Stattdessen führt Rousseau seinen Émile, in der Fiktion ein gesundes Kind aus wohlhabendem Elternhaus, zur Erkenntnis des Lebens hinaus in die Natur. Aufwachsen soll Émile im Dorf, nicht in der Stadt, in Einfachheit, nicht im Luxus, auf Wiesen, nicht auf Kissen, keusch, nicht lustbetont: ‚Die erste Regel ist, die Natur zu beobachten und dem Wege zu folgen, den sie vorzeichnet.‘ Die Natur spricht aus dem Menschen, solange die Gesellschaft ihn nicht verformt hat. Rousseau dachte zeitlebens groß vom einzelnen Menschen, während er der Menschheit insgesamt allerhand List und Tücke unterstellte.
Deshalb wäre eine vollkommen infantile Gesellschaft eine Nicht-Gesellschaft, ein Schreckbild, ein loser Bund der Rücksichtslosen, die es nicht besser wissen und nichts dabei finden. Und zugleich eine Gesellschaft der erwachsenen Manipulateure, die von so viel Voraussetzungslosigkeit wunderbar profitierten. Diesem Doppelaspekt werden wir noch öfter begegnen. Wer sich infantilisiert, verkapselt sich zum reizbaren, sentimentalen Einzelgänger. Wer sich infantilisieren lässt, wird zum Objekt souveräner Instanzen, die mutwillig mit ihm verfahren.“
Alexander Kissler
Inhaltlich sind es äußerst mutige Worte, die der Autor mitunter wählt.
An vielen Stellen stellt er sich damit gegen die gesellschaftlich gewünschte Meinung – wenn ich das mal so nennen darf. Er legt den Finger in die Wunde und hinterfragt Dinge, die teilweise ohne jegliche kritische Betrachtung einfach stehengelassen werden. Sprachlich wirkt das, was er zum Besten gibt, sehr reflektiert und klar. Seinen Stil würde ich als höheres intellektuelles und sprachliches Niveau beschreiben. Manch einen Neuling wird er damit sicherlich abhängen. Deshalb würde ich auch behaupten, dass dieses Buch nichts für die breite Masse ist. Dafür ist es dann doch sprachlich und auch inhaltlich etwas zu anspruchsvoll. Wer aber sehr gerne politische Diskussionen verfolgt, wird hier aus meiner Sicht eine spannende und bereichernde Perspektive wiederfinden.
Im Gegensatz zu vielen anderen politischen Büchern wirkt es reflektiert und pointiert.
„Kinder können nicht nur keine Kinder bekommen. Kinder sind auch mit einem großen Vertrauensvorschuss gesegnet, glücklicherweise. Kindlich ist es, dem Gegenüber erst einmal keine List, keine Bosheit zuzutrauen. Kindisch und gefährlich wird es, wenn Erwachsene sich mit derselben Haltung der Welt nähern. Wenn sie im Tier nur einen Spielpartner, einen Bau- und Lehrmeister sehen, einen Geburtshelfer besserer Welten. Die Brutalität von Tieren, jenseits aller Menschenmoral, bleibt dann ausgespart. Die Zähne werden ihnen buchstäblich gezogen. Natürlich lesen wir in den tierischen Besserungsfibeln für Menschen nichts von der Brutalität, mit der Krähen kleine Igel zu Tode hacken, nichts von der Lust der Katze, den Tod der Maus hinauszuzögern, nichts vom Schmarotzer Kuckuck, der anderer Vögel Eier aus dem Nest stößt.“
Alexander Kissler
Zweifelsfrei ist es kein einfaches Buch und nicht in allen Punkten bin ich unbedingt der Meinung des Autors. Dennoch bin ich ihm sehr dankbar für dieses Werk. Denn seine klaren Aussagen haben mich immer wieder zum Nachdenken und Hinterfragen meiner eigenen Überzeugungen und Standpunkte animiert. Grundsätzlich sollte es bei weitestgehend unwissenschaftlichen Themenfeldern wie der Politik keine Rolle spielen, ob ich die Meinung des Autors teile. Zumindest, solange er keine absurden Annahmen trifft oder Fakten widerspricht.
Der Preis ist mit 20,00 EUR bei dieser abgelieferten Qualität vollkommen in in Ordnung.
„Solange es Menschen gibt, haben sie das Recht, zu streiten und zu fordern, sich aufzuregen und sich besänftigen zu lassen, zu tanzen und zu zetern. Auch das Recht auf Infantilisierung ist unstrittig. In ihr verbirgt sich aber keineswegs ein Beweis, dass man die gute, die bessere Sache vertrete. Wer sich kindisch verhält, ohne ein Kind zu sein, arbeitet der Unmündigkeit zu, nicht der Aufklärung. Wenn Kinder und Jugendliche bei Demonstrationen ernst gemeinte Parolen rufen und lustig gedachte Bewegungen vollziehen, verbieten sich spöttische Kommentare der Älteren. Mögen die Jungen sich auch auf der Stelle im Kreis drehen, die Arme auf und ab bewegen wie Schaufeln und dabei singen: ‚Lasst uns auf die Straßen geh’n und uns in die Zukunft seh’n – Friday, Future, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut.‘
Was aber ist zu halten von Seniorinnen, die sich drehend, zappelnd, klatschend auf öffentlichen Plätzen in Bienen verwandeln? ‚Wir machen mit bei der Rettung der Erde: Fahrrad fahren, wenig Fleisch und vor allem Strom sparen!‘ Oder von Rentnern, die ihre Bäuche schütteln für den Umweltschutz zur Melodie von ‚Staying alive‘? All das gab es 2019 in Deutschland zu sehen. Nachahmung macht hier nicht den Meister, sondern produziert Peinlichkeiten. Kinder sind keine Erwachsenen in Wartestellung, sondern Kinder. Erwachsene sind keine Kinder in größeren Kleidern, sondern Erwachsene. Fast hätte ich hinzugesetzt: ‚Punkt!‘“
Alexander Kissler
Insgesamt präsentiert Alexander Kissler mit Die infantile Gesellschaft* eine kritische Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung.
Seine Argumentation ist stringent, gut strukturiert und wird durch zahlreiche historische Verweise und Beispiele unterstützt. Das Buch liefert einen nachdenklichen Beitrag zur Diskussion über die Notwendigkeit von Mündigkeit und Eigenverantwortung in einer zunehmend infantilen Gesellschaft.
„Der reife Mensch erliegt nicht den Sirenenklängen der Industrie und den Versprechungen des Konsums, wenn diese ihn in Unmündigkeit binden wollen. Er hält weder die Welt für eine Ausformung des Ichs noch das Ich für einen bloßen Wurmfortsatz der Welt. Er vertauscht nicht den Ernst mit dem Spiel und rettet so beide. Er träumt, weil er Fantasie hat, und er arbeitet, weil er es kann. Er richtet sich nicht ein in Untergängen, denn er traut sich und anderen etwas zu.
Er trägt keine rosarote Brille, denn er kennt sich und andere gut. Er weiß um die Unendlichkeit der Gefühle und die Endlichkeit des Lebens und sieht deshalb nicht in jeder Grenze eine Kränkung. Er liebt, solange er lebt, er lebt, solange er liebt, doch nicht seine Liebe und nicht sein Leben publiziert er vor Fremden. Er hat Freude am Leben, weil er Freunde hat, aber er liefert sich nicht anderen Menschen aus. Er braucht weder einen Dolmetscher noch einen Lautsprecher für sein Herz. Wir müssen uns den erwachsenen als einen glücklichen Menschen vorstellen. Sind Sie bereit?“
Alexander Kissler
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