KEINE REGELN: WARUM NETFLIX SO ERFOLGREICH IST von Reed Hastings und Erin Meyer* ist ein wirklich beeindruckendes Werk. Von Tech-Giganten sind wir es fast schön gewöhnt, dass sie dazu neigen, neue Wege zu gehen. Bei Netflix ist das nicht anders. „Seien Sie radikal ehrlich. Denken Sie daran, dass es sich um ein Team handelt, nicht um eine Familie. Und versuchen Sie nie, Ihrem Chef nach dem Mund zu reden.“ So lauten einige der Grundprinzipien für die Mitarbeitenden von Netflix. Außerdem gibt es keine Vorgaben hinsichtlich der Arbeitszeit oder Urlaubstagen und, und, und. / Anzeige
Für die einen sieht das auf den ersten Blick wie ein Paradies aus, in dem man prinzipiell 360 von 365 Tagen Urlaub machen kann. Doch für andere ist es eine Spirale bis zum Burn-out. Netflix lebt in einer Bubble aus Leistung, Freiheit und Anerkennung. Gepaart sind diese aber mit intrinsischem und extrinsischem Druck und einer Hire-and-Fire-Mentalität. Diese ist ja ebenfalls aus dem Silicon Valley bekannt.
In diesem Buch spricht der Gründer und CEO von Netflix, Reed Hastings, erstmals über die Merkmale ihrer Mitarbeiterführung. Und über die Strategien, mit denen das Unternehmen vom Versandhändler für DVDs zur erfolgreichen Streaming-Plattform geworden ist.
„Netflix ist anders. Es hat eine Kultur, in der nur eine Regel gilt: keine Regeln.“
Reed Hastings
Für mich ist es vor allem eine Geschichte von unglaublicher Freiheit.
Doch mit der entsteht eben auch ungeheure Verantwortung für alle. Und damit können viele bekanntlich nicht wirklich umgehen. Genau deshalb sind die Resultate nicht unbedingt immer positiv. Und zwar trotz Spitzengehältern, einer Kultur der Offenheit und Transparenz und einer konsequenten Abschaffung von Kontrollmechanismen.
Die Messlatte von Netflix liegt sehr hoch, der Fokus auf die Erhöhung der Talentdichte ist enorm. Wer damit umgehen kann und davon angesprochen wird, der findet sich im Paradies wieder. Alle anderen verlassen das Unternehmen so schnell, wie sie gekommen sind.
Ein definitiv streitbarer, aber enorm interessanter Ansatz für mich.
Ich habe jedes einzelne Kapitel gespannt gelesen. Zumal die beiden Autoren ursprünglich nicht unterschiedlicher in ihrer Wahrnehmung des Themas hätten sein können. Erin Meyer hat erst durch eine tiefere Auseinandersetzung mit den Ideen von Reed Hastings auch deren Vorteile erkannt. Dennoch bildet sie in diesem Buch an vielen Stellen die kritische Stimme.
„Die Netflix-Kultur hingegen ist berühmt – oder berüchtigt, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet – dafür, die Dinge beim Namen zu nennen. Millionen Geschäftsleute haben das ‚Netflix Culture Deck‘ studiert, eine Sammlung von 127 Folien, die ursprünglich für den internen Gebrauch bestimmt waren, bevor Reed sie im Jahr 2009 ins Internet stellte. Sheryl Sandberg, COO von Facebook, sagte, das ‚Culture Deck‘ sei ‚möglicherweise das wichtigste Dokument, das je im Silicon Valley verfasst wurde‘. Ich liebte das ‚Netflix Culture Deck‘ wegen seiner Aufrichtigkeit, und ich verabscheute es wegen seines Inhalts.
Abgesehen von der Frage, ob es moralisch richtig ist, tüchtige Mitarbeiter auf die Straße zu setzen, weil es ihnen nicht gelingt, etwas Außergewöhnliches zu leisten, wirkten diese Folien auf mich wie richtig schlechtes Management. Sie verstoßen gegen das Prinzip, das Amy Edmondson von der Harvard Business School als ‚psychologische Sicherheit‘ bezeichnet. In ihrem Buch Die angstfreie Organisation erklärt sie, dass man, wenn man Innovation fördern will, eine Umgebung schaffen muss, in der sich die Menschen sicher genug fühlen, um zu träumen, ihre Meinung zu sagen und Risiken einzugehen. Je sicherer die Atmosphäre, desto mehr Innovationen.
Anscheinend hatte niemand bei Netflix dieses Buch gelesen.“
Erin Meyer
Einen solchen Ansatz habe ich bisher noch nicht gelesen. Hier darf der Hauptautor seine Thesen und Ideen eben nicht einfach frei und ohne Zweifel vortragen.
Sondern er wird dabei von einer ehemaligen Kritikerin und Wirtschaftswissenschaftlerin kritisch hinterfragt.
„Man engagiert die besten Leute und flößt seinen talentierten Mitarbeitern anschließend Angst ein, indem man ihnen sagt, dass man sie mit einer ‚großzügigen Abfindung‘ auf die Straße setzen wird, wenn sie keine herausragenden Leistungen bringen? Das klang nach einer sicheren Methode, um jegliche Hoffnung auf Innovation zunichtezumachen.“
Erin Meyer
Ohne Zweifel bleiben auch nach den fast 400 Seiten immer noch etliche Gedanken bei mir offen. Zu vielen Ansätzen konnte ich mir noch keine abschließende Meinung bilden, möchte sie erst sacken lassen. Gerade das ist für mich bei einem Sachbuch allerdings immer ein besonders gutes Zeichen. Wenn sich im Anschluss ein Gedankenkarussell in meinem Kopf abspielt, dann hat das Buch alles richtig gemacht. Dieses Werk gehört definitiv dazu. Es zeigte mir neue Blickwinkel und lässt mich nun in der Folge an bisherigen Überzeugungen arbeiten. Und es erlaubt mir, die eigene Perspektive zu erweitern und zu schärfen.
Auch wenn hier teilweise skurrile Ideen vorgestellt werden: Unterm Strich lese ich deutlich lieber ein solches Werk als den hundertsten Business-Ratgeber, der die immer gleichen Ideen wie schon Generationen vor ihm nur lauwarm aufwärmt.
Insbesondere in Zeiten, in denen ich mein eigenes Unternehmen weiter aufbaue und skaliere, sind Bücher wie Keine Regeln* deutlich wertvoller.
Ein paar Worte zu den Autoren:
Reed Hastings ist der Gründer und CEO von Netflix. Er hat einen Abschluss des Bowdoin Colleges und einen Master der Stanford University in Künstliche Intelligenz. Dazwischen hat er unter anderem als Freiwilliger im Friedenscorps in Swasiland gedient.
Erin Meyer ist Professorin an der INSEAD Business School in Paris, einer der renommiertesten privaten Wirtschaftshochschulen weltweit. Sie ist Autorin von The Culture Map* und wurde 2019 von Thinkers50 in die Rangliste der 50 wichtigsten Management-Denker aufgenommen.
Übersetzt wurde das Buch von Stephan Gebauer.
Netflix ist zweifelsohne eines der erfolgreichsten Unternehmen der Welt.
Von vielen wird es für Innovationskraft, Flexibilität, Geschwindigkeit und unternehmerischen Mut bewundert. Die Transformation vom Versandhandel für DVDs hin zum Streaming-Anbieter war sicherlich nicht zu unterschätzen. Vor allem zu Zeiten, wo der Breitband-Ausbau noch nicht einmal ansatzweise so fortgeschritten war wie heute. Wer damals auf Netflix gesetzt und in die Aktie investiert hätte, wäre mit einem Vermögen aus dieser Spekulation gegangen. Aber es wäre eben auch genau das gewesen: eine Spekulation.
Denn von vielen war das Unternehmen bereits totgesagt, doch heute macht es selbst Hollywood Konkurrenz.
Es produziert eigene Blockbuster und Serien, die mittlerweile mit die meisten Oscar-Nominierungen erhalten. Ein unglaublicher Wandel, eine verrückte Erfolgsgeschichte und umso interessanter, den Gedanken und Ideen des Gründers zu lauschen.
„Aber Stück für Stück änderte sich die Welt. Unser Unternehmen behauptete sich und wuchs. Im Jahr 2002 […] brachten wir Netflix an die Börse. Blockbuster war immer noch hundertmal größer als wir (mit einem Jahresumsatz von 5 Milliarden gegenüber unseren 50 Millionen). Außerdem gehörte Blockbuster zu Viacom, das zu jener Zeit das wertvollste Medienunternehmen in der Welt war. Doch im Jahr 2010 meldete Blockbuster Konkurs an. Neun Jahre später gab es auf der ganzen Welt nur noch eine einzige Blockbuster-Filiale in Bend (Oregon). Das Unternehmen hatte den Sprung vom DVD-Verleih zum Streaming nicht geschafft.
Im Jahr 2019 wurde unser Film Roma in der Kategorie ‚Bester Film‘ für den Oscar nominiert und gewann drei Statuetten, was ein großer Erfolg für den Regisseur Alfonso Cuarón war und die Verwandlung von Netflix in ein echtes Unterhaltungsunternehmen unterstrich. Es war lange her, dass wir nicht nur vom DVD-Verleih per Post zum Internet-Streaming-Dienst mit über 167 Millionen Abonnenten in 190 Ländern übergangen waren, sondern uns zu einem wichtigen Produzenten von Fernsehserien und Filmen in aller Welt gemausert hatten. Wir hatten die Ehre gehabt, mit einigen der begabtesten Filmschaffenden zusammenzuarbeiten, darunter Shonda Rhimes, Joel und Ethan Coen sowie Martin Scorsese.“
Reed Hastings
Besonders spannend sind da die Unternehmensleitlinien, die für Mitarbeiter wie Führungskräfte Maßstab ihrer Arbeit sind.
Vorgaben, die jeden Gewerkschafter aufs Dach steigen lassen würden:
„Netflix ist keine Familie, sondern eine Mannschaft von High Performern. Für diese braucht es keine komplizierten Regularien und Genehmigungsprozesse, sondern mehr Eigenverantwortung. Niemand soll seinem Chef nach dem Mund reden. Alle können so viele Urlaubstage nehmen, wie sie für angemessen halten. Nicht Arbeitszeit und Arbeitsweise zählen, sondern Ergebnisse. Alle geben sich gegenseitig offenes und manchmal schmerzhaftes Feedback – auch Mitarbeiter ihren Vorgesetzten. Netflix zahlt die besten Gehälter und trennt sich konsequent von Low Performern und Selbstdarstellern. Dabei ist allen klar, dass ein solches Konzept, das auf Vertrauen beruht, vollkommen wertlos ist, wenn die Ideen nicht vom Management vorgelebt werden.
Aufrichtigkeit und exzellente Mitarbeiter sind die wesentlichen Schlüssel zu überdurchschnittlichen Ergebnissen. Ist beides gegeben, kann ein Unternehmen auf starre Regeln, auf kleinliche Kontrolle und sogar auf Entscheidungshierarchien verzichten.“
Reed Hastings
Fünf Sterne für dieses Buch, weil es einfach so anders ist: super spannend, streitbar und anregend.
Man muss definitiv nicht alles gutheißen, was Netflix zu seinen eigenen Standards gemacht hat. Aber es ist wirklich interessant zu lesen. Und das Buch ist durchaus selbstkritisch aufgebaut und dadurch noch wertvoller.
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