Das Buch regt zum Nachdenken über die die Bedeutung der Sprache in zwischenmenschlichen Beziehungen und darüber hinaus an.
Politik

Versöhnung

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★★★☆☆

VERSÖHNUNG von Stephan Grätzel* setzt sich tiefgehend mit der Macht der Sprache und ihrer Rolle bei der Versöhnung auseinander. Der Autor möchte mit diesem Buch einen Beitrag zur Philosophie des Dialogs leisten. Dabei kommt er aus meiner Sicht aber etwas zu häufig vom Weg ab. Ein roter Faden ist nicht unbedingt erkennbar, was aber wiederum typisch für die weite Welt der Philosophie zu sein scheint. / Anzeige

Stephan Grätzel stellt die Frage:

Wie können Menschen, Familien, Gruppen, Parteien, Nationen oder Religionsgemeinschaften, die getrennt oder verfeindet sind, zur Versöhnung gelangen? Dabei betont er, dass Streit und Krieg im Grunde nur Versuche sind, Gehör und Respekt zu erlangen. Jedoch führen sie zu einer Spirale sprachloser Gewalt. In diesem Kontext präsentiert er die Versöhnung als ausschließlich durch Sprache mögliche Lösung. Stephan Grätzel zeigt: Solange Menschen miteinander sprechen, sind sie auf einem Weg der gegenseitigen Verständigung, sei es in persönlichen oder politischen Angelegenheiten.

Inhaltlich strukturiert sich das Buch in sieben Kapitel, die verschiedene Aspekte der Versöhnung und ihre Verbindung zur Sprache behandeln:

1.     Die Macht des Dialogs: Dieses erste Kapitel richtet den Fokus auf die Bedeutung des Dialogs in Beziehungen. Es zeigt, wie das Miteinander-sprechen ein Weg zur Versöhnung darstellen kann.

„Philosophisch ist die Dialektik die notwendige Voraussetzung für das dialogische Verständnis der Sprache, da sie die Logik des ausgeschlossenen Dritten in ihrer Gültigkeit einschränkt und die Zulassung des Dritten einfordert.“
Stephan Grätzel

2.     Wege der Versöhnung: Das zweite Kapitel differenziert dann zwischen Dialektik und Dialogik, wobei der Autor den Dialog als wesentliche Voraussetzung für Versöhnung herausstellt.

3.     Sprache und Versöhnung: Das dritte Kapitel erkundet die verschiedenen Dimensionen der Sprache. Der Autor spannt dabei einen Bogen von der Benennung über Geschichten bis zur Gewaltenteilung in Gott, Mensch und Welt.

4.     Brücken der Versöhnung: Das vierte Kapitel betrachtet Brücken, die über alle Formen der Entzweiung geschlagen werden. Und es zeigt auf, dass Versöhnung auch ohne Vergebung möglich ist.

5.     Zeichen der Sühne: Im fünften Kapitel werden verschiedene Zeichen der Sühne behandelt, von Gewissensbissen über Bekenntnisse bis zu Opfern.

6.     Versöhnung mit der Natur: Das sechste Kapitel behandelt die womöglich schwerste Form der Versöhnung, nämlich die Versöhnung mit der Natur. Außerdem untersucht es Möglichkeiten des Dialogs mit der Natur.

7.     Versöhnung und Frieden: Das siebte Kapitel stellt die politische und rechtliche Dimension der Versöhnung heraus. Und es betont, dass Versöhnung in einem demokratischen Prozess stattfinden muss.

Auf den ersten Blick scheint dieser Aufbau einen roten Faden durch das Buch darzustellen.

Beim Lesen musste ich mir aber eingestehen, dass sich das so nicht immer angefühlt hat. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass stetig neue Themenfelder aufgearbeitet wurden, die nicht unbedingt in einem stringenten Zusammenhang standen.

Stephan Grätzel führt die Leser durch diverse philosophische Überlegungen. Dabei reflektiert er nicht nur die persönliche Versöhnung, sondern auch die zwischen Mensch und Natur. Die Dreiwertigkeit der Logik der Versöhnung im Gegensatz zur Zweiwertigkeit der Logik der Schuld war für mich besonders spannend. Die Idee, dass Dialog und Dialektik in ihrer Dreiwertigkeit die Grundlage für fruchtbaren Austausch bilden, ist zentral für seine Argumentation.

Die Verbindung zwischen Versöhnung und Sprache veranschaulicht der Autor durch verschiedene Beispiele und Fallstudien. Seine Überlegungen zu Dialog und Dialektik bieten eine fundierte Grundlage für das Verständnis der philosophischen Dimension der Versöhnung.

Die Schlussfolgerungen aus den einzelnen Kapiteln und die klaren Zusammenfassungen tragen dazu bei, die komplexen Ideen zu verdeutlichen.

Außerdem bieten sie den Lesern eine gewisse Orientierung. Dennoch muss ich an dieser Stelle festhalten, dass es keineswegs ein Buch für Einsteiger ist. Das sprachliche Niveau ist enorm und die Tiefe der philosophischen Gedankenstränge kann leicht überfordern. Obgleich es nicht mein erstes Buch zu einem solchen Thema war, musste auch ich etliche Kapitel mehrfach lesen. Nur so konnte ich den Inhalt vollumfänglich verinnerlichen. Man spürt deutlich, dass der Autor vom Fach ist.

„Nach Entzweiung, Krieg und Schuld ist Versöhnung möglich, auch wenn es nicht zur Entschuldigung und Verzeihung gekommen ist oder kommen konnte. Versöhnung ist sogar notwendig, weil Streit, Krieg und Schuld sonst andauern. Versöhnung ist ausschließlich mit Sprache, durch Miteinander-sprechen möglich. Sprache hat die Macht zur Versöhnung. Die Macht der Sprache ist auch die Macht der Liebe. Liebe ist nicht nur ein Gefühl, sie führt zu einer Haltung, einer Weltanschauung und hat sogar zu einer Religion, dem Christentum, geführt. In der Liebe als Gebot mag eine Überlegenheit gegenüber anderen Religionen liegen. Gleichwohl ist Liebe keine Vorschrift oder Regelung und schon gar kein Gesetz, sie tritt auch in unterschiedlichster Form, von der erotischen bis zur caritativen Liebe, allein durch ein persönlich ausgesprochenes Bekenntnis in Erscheinung.“
Stephan Grätzel

An dieser Stelle ein paar Worte zum Autor:

Stephan Grätzel, seit 1998 Universitätsprofessor für Philosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, ist ein renommierter Wissenschaftler und Philosoph. In seiner langjährigen akademischen Karriere hat er sich auf den Bereich der Praktischen Philosophie spezialisiert. Als Leiter des Arbeitsbereichs Praktische Philosophie an seiner Universität hat er maßgeblich zur Entwicklung und Vertiefung philosophischer Fragestellungen beigetragen.

Stephan Grätzel ist zudem Mitherausgeber der Buchreihe „dia-logik“, in der wichtige philosophische Werke und Diskussionen veröffentlicht werden. Sein Engagement als Mitherausgeber unterstreicht sein Interesse an einem breiten Dialog und der Veröffentlichung relevanter philosophischer Inhalte. Durch Lehrtätigkeit, Forschungsbeiträge und Herausgeberschaft hat er einen bedeutenden Einfluss auf die philosophische Landschaft ausgeübt und zu ihrer Weiterentwicklung beigetragen.

„Das Leben geht aus Gegensätzen hervor und ist selbst voller Gegensätze. Wie Leben nicht ohne Tod sein kann und der Tod nicht ohne Leben denkbar ist, so zieht sich dieser Riss durch alle Lebensformen und Gestalten. Anfang und Ende, Kommen und Gehen, Nehmen und Geben, Willkommen und Abschied wiederholen das Lebensdrama aus Trennung, Wiederfinden und Versöhnen. So kommt es zu notwendigen Trennungen, von der Mutter bei der Geburt, von der Kindheit und zuletzt vom Leben selbst. Jeder Moment kann als Trennung verstanden werden, wenn das Leben als Auslaufen einer Sanduhr gesehen wird. Menschen trennen sich, wenn sie sich nicht mehr verstehen. Das Verstehen und Nicht-Verstehen führt zu Trennungen. Das gilt für Familien, Gruppen, Staaten und Völker.“
Stephan Grätzel

Das Cover des Buches ist mir leider etwas zu schmucklos geraten.

Da hätte man durchaus noch deutlich an der Gestaltung feilen können. Auch das Backcover trumpft nicht wirklich auf. Es ist nicht schlecht, aber eben auch nicht besonders gut. Aus meiner Sicht verschenktes Potenzial. Die Bindung und Papierqualität sind aber wiederum sehr gut.

Die 28,00 Euro sind für den Umfang von knapp 350 Seiten und eine Hardcover-Bindung prinzipiell okay. Aber nicht nur das Layout des Äußeren, sondern auch die Optik im Inneren des Buches bleibt eher blass. Das ist grundsätzlich erst einmal nichts Schlimmes. Es sollte sich dann aber aus meiner Sicht auch im Preis widerspiegeln, der so doch etwas zu hoch gegriffen ist. Ich durfte zuletzt auch etliche Publikationen in den Händen halten, die wirklich aufwändig gestaltet waren und weniger gekostet haben. Darunter z. B. Finde den Tempel in dir* aus dem Gräfe Unzer Verlag. Oder Bücher, die für einen ähnlichen Preis deutlich hochwertiger waren, wie z. B. Der Chip Krieg* aus dem Rowohlt Verlag.

Spannend fand ich allerdings, dass das Buch Papst Franziskus und seiner Arbeit für Frieden und Versöhnung gewidmet ist. Eine solche Widmung habe ich bisher noch nicht lesen dürfen.

Sehr schön finde ich auch, dass die Danksagung an den Anfang gestellt wurde.

Leider geht diese aus meiner Sicht viel zu häufig irgendwo im Anhang unter. Manch einer weiß deshalb gar nicht, wie viele Leute an einem wirklich guten Buch mitwirken müssen.

Inhaltlich spürt man nicht nur an der Widmung, sondern auch zwischen den Zeilen recht schnell: Hier handelt es sich um ein religiös angehauchtes Philosophie-Buch. Das ist nichts Negatives, die Leser sollten es aber vorher wissen. Manch einer gibt der Kirche damit vielleicht eine zweite Chance. Wieder andere schreckt es komplett ab oder sie finden sich darin perfekt wieder.

Man spürt auch zügig, dass der Autor Professor für Philosophie ist. Das Buch ist zweifelsfrei sprachlich wunderbar geschrieben, aber er neigt durchweg dazu abzuschweifen. Manches Mal bin ich ihm sehr gerne auf seinen Ausflügen gefolgt. An anderer Stelle empfand ich sie als etwas zu langatmig und musste mich durchquälen. Dennoch liebe ich es prinzipiell, in die Gedanken solch erfahrener und belesener Persönlichkeiten wie Stephan Grätzel einzutauchen.

Das Buch gräbt sich teilweise wahnsinnig tief in Themen ein und ist definitiv nichts für Einsteiger.

Man sollte tiefes Interesse an mitunter verrückten Gedankenspielen der Philosophie mitbringen. Ansonsten wird man sehr schnell nach der ersten komplexeren Seite aus Überforderungen oder Desinteresse abschalten.

An sich ist es ein sehr gutes Buch. Aber am Ende muss ich gestehen, dass mir doch der rote Faden fehlt. Viel zu häufig findet man sich beim Lesen auf teilweise seitenlangen Ausflügen zu kleinsten Bausteinen der Thematik wieder. Deren Relevanz erschließt sich mir nicht immer. Die Texte sind höchst anspruchsvoll verfasst, sauber recherchiert, mit Quellen untermauert, aber dann doch zu praxisfern für mich. Mir fehlen die Lösungsansätze oder Ideen, die ich von einem Beitrag zur Philosophie des Dialogs erwarten würde. Strukturell habe ich am meisten zu kritisieren. Mitunter wirkt es, als würden Wörter nicht aneinandergereiht, weil sie einem tieferen Sinn unterliegen, sondern weil sie gerade so heraussprudeln. Im Prinzip müsste man aus meiner Sicht das aktuelle Buch nochmals strukturieren und damit auf ein neues Niveau heben. So könnte es von mir dann auch Bestbewertungen bekommen.

Der Sprachstil wirkt sehr gehoben, aber an manchen Stellen dann doch etwas aus der Zeit gefallen.

Es liest sich weniger wie die philosophischen Werke eines Werner Heussinger und mehr wie die Bücher von Gustave Le Bon. Auch das ist grundsätzlich wieder nichts Negatives, aber am Ende passt es nicht ganz zur Aufmachung. Das Buch wirkt äußerlich wie ein praktischer Ratgeber und entpuppt sich beim Lesen dann doch eher als philosophisches Gedankenchaos. Sicherlich auch nicht verkehrt, aber dann doch eher passend für detailverliebte Menschen, die genau so etwas gesucht haben. Doch diese hätten wahrscheinlich nicht zu diesem Buch gegriffen, weil es das so nicht äußerlich darstellt.

Insgesamt ist Versöhnung* von Stephan Grätzel ein wirklich tiefgreifendes und nicht leicht verständliches Werk.

Aus meiner Sicht wird es vor allem dem philosophisch interessierten Publikum gefallen. Es regt zum Nachdenken über die die Bedeutung der Sprache in zwischenmenschlichen Beziehungen und darüber hinaus an. Und es bietet wertvolle Einblicke in die Möglichkeiten und Herausforderungen der Versöhnung in verschiedenen Kontexten.

Der Autor betont wiederholt die Kraft des Dialogs als Mittel zur Überwindung von Konflikten und zur Schaffung von Verständnis. Dabei stellt er aber klar: Versöhnung muss nicht zwangsläufig bedeuten, Vergebung zu gewähren, sondern ist vielmehr das Finden eines gemeinsamen Verständnisses und Respekts. 

Dies ist nicht nur ein philosophisches Werk, sondern ein Aufruf zur aktiven Teilnahme an einem kontinuierlichen Dialog für Verständigung und Frieden.

Es bietet nicht nur Denkanstöße, sondern auch konkrete Ansätze für die Umsetzung von Versöhnung in verschiedenen Lebensbereichen. Von Letzterem aus meiner Sicht aber leider etwas zu wenig.

Insgesamt gelingt es Stephan Grätzel für mich nicht immer, komplexe philosophische Konzepte zugänglich zu machen und ihre praktische Anwendbarkeit zu verdeutlichen. Dennoch bleibt es für versierte Leser ein sehr spannendes Werk.

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